Die Bedeutung von Ableismus und warum der Begriff so grundlegend ist
Der Begriff Ableismus klingt sperrig. Trotzdem ist er wichtig für alle und besonders für diejenigen, die mit dem Thema Behinderung in Berührung kommen. Schließlich beinhaltet der Begriff Ableismus etwas Grundlegendes.
Woher kommt der Ausdruck Ableismus?
Der Ausdruck Ableismus leitet sich vom englischen Ausdruck „ableism“ ab. Das eingedeutschte Wort setzt sich zusammen aus „to be able“, was „fähig sein“ heißt und der Endung „-ism“, im Deutschen „-ismus“. Man spricht das Wort Ableismus wie im Englischen aus, also: Äi-be-lis-mus (Aktion Mensch).
Was ist mit Ableismus gemeint?
Ableismus ist das Fachwort für die ungerechtfertigte Ungleichbehandlung eines Menschen wegen einer körperlichen Behinderung, einer psychischen oder chronischen Erkrankung oder aufgrund von Lernschwierigkeiten (EUTB).
Es ist also ableistisch, wenn ein Mensch wegen einer bestimmten, oft äußerlich wahrnehmbaren Eigenschaft oder einer Fähigkeit – in dem Fall seinem „Behindert sein“ – bewertet wird. Der Wert einer Person wird an seiner Leistung und seinen Fähigkeiten festgemacht. Nach ableistischen Maßstäben wäre also ein Mensch, der nicht sprechen oder nicht gehen, nicht sehen oder nicht hören kann, weniger wert (L’Audace, 2022, S. 34).
Im Fall von Ableismus wird ein Mensch nach seiner Behinderung beurteilt, auf seinen Körper reduziert und einer Gruppe zugeordnet (Maskos, 2010).
Wie sieht Ableismus im Alltag aus?
Ableismus kann in abwertender oder aufwertender Form auftreten.
Eine abwertende Verhaltensweise wäre dies: Ein Mensch im Rollstuhl fährt mit dem Bus. Die* Busfahrer*in reagiert genervt und sagt: „Können Sie nicht zu einer anderen Tageszeit Busfahren? Sie halten den Verkehr auf.“
Dagegen wäre das folgende Beispiel eine Aufwertung: Im Bus sagt ein Fahrgast zu dem Menschen im Rollstuhl: „Ich finde es toll, dass Sie trotzdem Bus fahren, obwohl Sie im Rollstuhl sitzen.“
Ableismus kann also häufig auch unbewusst erfolgen oder in einem Kompliment oder einer Bewunderung versteckt sein.
Wie ableistisch ist unsere Sprache?
Viele benutzen ableistische Sprache im Alltag, ohne es zu merken oder diskriminieren zu wollen. Bei Begriffen wie „Schwachsinn“ oder „Idiot“ fällt den meisten nicht auf, dass es sich um veraltete Begriffe für „geistige“ Behinderung handelt. Oft ist das, was mit Behinderung zu tun hat, negativ behaftet: etwa Ausdrücke wie „blindes Huhn“, „blindes Vertrauen“, „taube Ohren“ oder „lahme Party“ (Maskos, 2024).
Das Wort „behindert“ wird oft als Schimpfwort gebraucht. Dies ist ein Anzeichen für die tiefe Verankerung von Ableismus in der Gesellschaft. „Behindert“ steht für das Ungewollte: schwach, abhängig und hilfsbedürftig sein – etwas, das auch jedem Menschen ohne Behinderung passieren kann (Maskos, 2024).
Welche Rolle spielen Bewertungen, Normen und Erwartungen?
Eine zentrale Rolle bei ableistischem Verhalten spielt die Bewertung. Es geht also darum, ob jemand etwas kann oder nicht. Oft wird davon ausgegangen, dass Menschen mit Behinderungen etwas in Ihrem Leben wegen oder trotz ihrer Behinderung tun. Der Mensch wird aufgrund einer einseitigen Fokussierung auf seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten reduziert (Maskos, 2010).
Eine künstlich geschaffene Norm lässt eine körperliche Beeinträchtigung überhaupt erst zu einer Behinderung werden.
Die Fähigkeit, zu arbeiten entschied jahrhundertelang, ob jemand als behindert galt oder nicht. Bevor das Wort „Behinderung“ nach dem Zweiten Weltkrieg aufkam, sprach man von Invaliden. Invalide bedeutet so viel wie arbeitsunfähig (Maskos, 2010).
Auch gesellschaftliche Rollenerwartungen tragen zu ableistischem Verhalten bei. Es gibt Erwartungen, die beeinträchtigte Menschen nicht erfüllen können. Erst dadurch werden beeinträchtigte Menschen behindert.
Wie sehr das Urteil, ob jemand behindert ist oder nicht, von den gesellschaftlichen Normen oder Erwartungen abhängt, wird anhand von Brillenträger*innen klar: Ohne eine Brille können Menschen mit starker Fehlsichtigkeit zum Teil schwer beeinträchtigt sein. Trotzdem wird in diesem Fall selten von einer Behinderung gesprochen. Eine Brille gilt als sehr verbreitetes Hilfsmittel und ist sozial hoch akzeptiert. Die Grenze, ab wann ein Mensch als behindert gilt, ist also flexibel und hängt von den gesellschaftlichen Maßstäben ab (Maskos, 2010).
Warum ist Ableismus so umfassend?
Die Zuschreibung, was als behindert gilt und was nicht, hat eine kulturelle Tradition. Sie beruht auf verallgemeinerten oder vereinfachten, klischeehaften Bildern und ungerechtfertigten Vorurteilen. Dies lässt sich auch in anderen Bereichen verdeutlichen. Ein festgemachtes Bild oder eine Bewertung wäre zum Beispiel, dass Frauen Kinder mögen, Männer gut einparken können oder Schwarze Menschen musikalisch sind. Solch vermeintliches „Wissen“ wird oft unbewusst von Generation zu Generation weitergegeben (Maskos, 2010).
Weil ableistisches Denken so tief in der Gesellschaft verwurzelt ist, bedeutet Ableismus eine strukturelle Diskriminierung von behinderten und chronisch kranken Menschen. Ableismus findet auf allen Ebenen statt – also auf der institutionellen, der wirtschaftlichen und der kulturellen Ebene. So haben Menschen mit Behinderung nicht die gleiche Chance auf Bildung, sind häufiger von Armut bedroht und erfahren kaum angemessene Repräsentation in Medien oder andernorts. Deshalb sind Diskriminierungserfahrungen von Menschen mit Behinderungen keine Einzelfälle (L’Audace, 2022, S. 32).
Luisa L’Audace, die selbst eine Behinderung hat und unter anderem als Aktivistin und Beraterin für Inklusion und Antidiskriminierung tätig ist, geht mit ihrem Verständnis von Ableismus noch einen Schritt weiter. Demnach sind auch Menschen mit Behinderungen ableistisch sozialisiert, weil sie wie alle Menschen in ableistischen Strukturen aufgewachsen sind und nichts anderes kennen (L’Audace, 2022, S. 33).
Was bedeutet „Othering“ im Zusammenhang mit Ableismus?
Ableismus wird als System verstanden, das auf behindertenfeindlichen Strukturen und Denkweisen basiert. Ähnlich wie bei Sexismus und Rassismus hat Ableismus noch eine andere Funktion. Er konstruiert eine Norm. Durch die konstruierte Norm gelten Menschen mit Behinderungen als „speziell, außergewöhnlich oder besonders“. Nach der Devise „wir und die anderen“ wird eine Abgrenzung geschaffen. Dies führt zur „Entmenschlichung“ von Personen mit Behinderungen (L’Audace, 2022, S. 35). Menschen mit Behinderungen werden als „Andere“ markiert und zu „Anderen“ gemacht. In der Fachliteratur wird dies als „Othering“ bezeichnet (L’Audace, 2022, S. 33).
Ableismus ist eine Diskriminierung, die über Behindertenfeindlichkeit hinausgeht. Die Abwertung einer Gruppe – in diesem Fall Menschen mit Behinderungen oder chronisch Kranke – bedeutet die Aufwertung derer, die dieser Gruppe nicht angehören (L’Audace, 2022, S. 33).
Warum betrifft Ableismus uns alle?
Wir alle sind durch gesellschaftliche Verhältnisse ableistisch sozialisiert. Ableistische Denk- und Verhaltensweisen erkennen wir zumeist nicht als solche. Es muss also keine Absicht dahinterstecken, wenn wir uns ableistisch verhalten. Dabei unterscheiden sich die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen nicht von denen der Menschen ohne Behinderungen. Für Menschen mit Behinderungen müssen nur andere Voraussetzungen erfüllt sein. Zum Beispiel möchte ein Mensch mit Mobilitätseinschränkung genauso in den dritten Stock zu einem Bewerbungsgespräch gelangen wie eine Person ohne Behinderung. Nur benötigt die eine Person einen Aufzug und die andere nicht (L’Audace, 2022, S. 35).
Abgesehen davon wird niemand dem nichtbehinderten Ideal komplett gerecht. Behinderung ist eine (oft unbewusste) Realität für alle. Spätestens im Alter werden alle zu beeinträchtigten Menschen (Maskos 2023).
Literaturverzeichnis:
Aktion Mensch, Ableismus, https://www.aktion-mensch.de/dafuer-stehen-wir/was-ist-inklusion/ableismus [abgerufen am 06.09.2024]
EUTB – Fachstelle Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung, https://www.teilhabeberatung.de/woerterbuch/ableismus [abgerufen am 06.09.2024]
L’Audace, Luisa (2022): Behindert und stolz: Warum meine Identität politisch ist und Ableismus uns alle etwas angeht, 1. Aufl., Hamburg, Edel Verlagsgruppe GmbH
Maskos, Rebecca (28.08.2023): Ableismus und Behindertenfeindlichkeit, Diskriminierung und Abwertung behinderter Menschen, für bpb.de, https://www.bpb.de/themen/inklusion-teilhabe/behinderungen/539319/ableismus-und-behindertenfeindlichkeit/ [abgerufen am 06.09.2024]
Maskos, Rebecca (Dezember 2010): Was heißt Ableism? Überlegungen zu Behinderung und bürgerlicher Gesellschaft, für Arranca! Nr. 43, Bodycheck und linker Haken, https://arranca.org/ausgaben/bodycheck-und-linker-haken/was-heißt-ableism [abgerufen am 10.09.2024]
Maskos, Rebecca (02.01.2024): „Behindert, oder was?“ Wie ableistisch sind wir eigentlich?, brigitte.de, https://www.brigitte.de/aktuell/gesellschaft/inklusion–wie-ableistisch-sind-wir-eigentlich–13748120.html [abgerufen am 17.09.2024]